*Spoiler: Achtung: Langer, persönlicher Text.
** Ganz unten, mein Nachtrag am 31.03.2023
Wer andere beim Thema Freiraum unterstützen will, darf sich seiner eigenen Engstellen sehr bewusst sein.
Meine Größe war lange ein großer Schmerz
Schon im Kindergarten zeichnete ich ganze Universen auf briefmarkengroßes Papier. Und stand schon damals bei den Gruppenfotos wegen meiner Größe in der letzten Reihe. Im Gymnasium war ich bis in die Oberstufe die Größte meiner Jahrgangsstufe. Leuchtturm war damals das Schimpfwort für mich. Mein Körper reagierte mit schweren Allergien und zeigte, dass ich mich nicht wohl fühlte in meiner Haut. Jungs fanden mich doof. Beim Tanzkurs war ich eine von denen, die auf die Hospitanten warteten. Wer will auch mit einem Mädchen tanzen, zu dem er aufsehen muss?
Ich las mich derweil durch die Bestände der Stadtbibliothek und probierte viele Kreativtechniken aus. Von Goldschmiedearbeiten bis Bauernmalerei war alles dabei.
Innenarchitektur statt Kunst
Doch statt Kunst studierte ich Innenarchitektur. Zur Kunst wurde ich nicht ermutigt, wahrscheinlich weil Kunst für die Kriegsgeneration meiner Eltern als brotlos galt. Ich hatte Glück, dass mein Studiengang sehr künstlerisch angelegt war. Meine Diplomarbeit kreierte Wohnräume in einer Palladio-Villa. Das dazugehörige DIN A 2 Skizzenbuch umfasste 200 Seiten. Schon damals hatte ich meinen unverkennbaren Zeichenstil. Doch da ahnte ich noch nicht, dass ich ein besonderes Zeichentalent hatte.
Mein Herzensmensch und München.
Einen Herzensmenschen hatte ich dann doch gefunden. Mit ihm ging ich vom Ruhrgebiet nach München. In meiner ersten Stelle in einem großen Architekturbüro war ich ein Novum, die erste Innenarchitektin, der sie gleich noch eine Projekt- und Bauleitung zutrauten. Mit gerade mal 25 Jahren erklärte ich Handwerkern, die tiefsten bayrischen Dialekt sprachen, wie meine Entwürfe umgesetzt werden sollten. Mein erstes Projekt bescherte mir viele schlaflose Nächte, regelmäßige Panikattacken und am Ende einen sehr schönen umgebauten Yachtclub am Starnberger See. Danach wurde mir auch in anderen Büros Projekte von A bis Z anvertraut. In einem Jahr fuhr ich 55.000 Kilometer zu meinen Baustellen. Noch hochschwanger mit meinem ersten Kind erklärte ich Handwerkern, wie sie meinen Entwurf realisieren sollten. So gut wie immer war ich die einzige Frau auf der Baustelle und dann auch noch die, die das Sagen hatte. Das war und blieb, bis ich es an den Nagel hing, super anstrengend.
Meinen Herzensmenschen hatte ich in der Zwischenzeit feierlich geheiratet. Nach der Geburt unserer Tochter ging ich erstmal in Elternzeit. Reisetätigkeit und Säugling, das passte nicht zusammen. Später realisierte ich kleinere Projekte für mein damaliges Büro. Statt meinen Bauherren zu erzählen, dass ich mit Kind von zu Hause aus arbeitete, erzählte mein Chef, ich sei auf der Baustelle. Das hat mich sehr geschmerzt.
Die Weite von Canada
Das Dilemma löste sich, als wir als kleine Familie kurzentschlossen, innerhalb von 14 Tagen, für 10 Monate nach Vancouver in Canada zogen, weil mein Mann dorthin expediert wurde. Ich verliebte mich in dieses schöne Land mit Weitblick und Freiraum. Mein Lieblingsort wurde Vancouver Island.
Engstellen erlebte ich durch die Alltagsorganisation mit kleinem Kind, meinem Heimweh und schmerzhaften gesundheitlichen Problemen. Internet und Telefonflat gab es 1997 noch nicht. Auch Expat-Unterstützung bei der Rückkehr war unbekannt. Zurück in Deutschland vermisste ich die canadische Weite. Alles fühlte sich eng an.
Familienglück und Krebs
Bald nach unserer Rückkehr kündigte sich Kind Nummer 2 an. Doch das Familienglück nach der Geburt währte nur 2 Wochen lang. Dann schlug die Diagnose Krebs wie ein Blitz bei uns ein. Statt Wochenbett begleitete ich meinen Mann, der durch Operation und Chemotherapie gehen musste. Mein Leben stand von einem auf den anderen Tag Kopf. Alles fühlte sich surreal an. Als ich die Geburtsanzeige für unseren Sohn verschickte, fürchtete ich, das nächste sei eine Todesanzeige. Zum Glück kam es anders.
Ich aktivierte alle meiner Ressourcen und jonglierte Krankheitsbegleitung und 2 kleine Kinder. Schaffte es sogar, meinen Sohn 9 Monate lang zu stillen. Kein Ahnung, woher ich die Kraft nahm.
Die Lebensfreude war weg
Doch danach war nichts mehr wie vorher. Die Lebensfreude war in der Chemotherapie vergiftet worden. Der Alltag mit 2 kleinen Kindern blieb anstrengend. Gute Nachrichten brachten die regelmäßigen, befundfreien Kontrolltermine: Der Krebs blieb weg!
Genug Last für meinen Lebensrucksack?
Ich dachte damals, es sei genug Last in meinen Lebensrucksack gepackt worden und startete in die berufliche Selbständigkeit als Innenarchitektin. Doch weit gefehlt. Aus einer Entwicklungsverzögerung wurde bei Kind Nummer 1 eine Lernbehinderung. Der schulische Weg wurde steinig. Diagnosen und Hilfen waren nur nach langen Wartezeiten zu bekommen. Ich lernte Geduld und übte mich im Loslassen von Leistungserwartungen. Gleichzeitig vertraute ich meinem Bauchgefühl, das sagte, dieses wunderbare Kind geht seinen Weg, wenn es ermutigt wird. Üben, dranbleiben und ermutigen, das waren meine langjährigen Themen. Heute steht unsere wunderbare Tochter auf eigenen Füßen und hat es allen gezeigt, die ihr die Eigenständigkeit nicht zugetraut haben. Ich bin sehr stolz auf sie!
Unserem Sohn bei all den Anstrengungen ebenfalls das richtige Maß an Zuwendung zu schenken, war für mich ein großer Kraftakt. Gespart habe ich bei mir, bei meinen Wünschen und meiner beruflichen Entwicklung.
Was mir in meiner Beziehung zu ihm sehr geholfen hat, das war, von Anfang an grottenehrlich mit ihm zu sein. Wir sprachen altersgerecht über Krebserkrankung und Inklusion. Ich bin sehr stolz auf ihn, weil er in all den Jahren seinen ganz persönlichen Weg im Umgang mit diesen Themen gesucht und gefunden hat. Heute ist er ein großartiger Gesprächspartner auf Augenhöhe.
Wir als Paar schenkten uns viel zu wenig Aufmerksamkeit.
Mittendrin in diesem Hamsterrad, blieben wir als Paar auf der Strecke. Wir hätten Unterstützung gebraucht, gerade am Anfang nach der Diagnose. Leider steckte die Psychoonkologie noch in den Kinderschuhen. Für manche Aufgaben braucht es ein ganzes Dorf, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Dieses Dorf fehlte uns.
(Hier noch ein Blogartikel zum Dorf: Lass deinen Worten Taten folgen.)
Meine Marke Freiraumfrau wird “geboren”.
Den Wendepunkt erlebte ich 2010 als die Freiraumfrau in einer Markenberatung geboren wurde. Schritt für Schritt suche ich seitdem den Freiraum auf allen Ebenen. Ich nutze meine kreativen Fähigkeiten um unkonventionelle Lösungen aus Engstellen zu finden.
Ich bin eine sogenannte Kriegsenkelin. Hart gegen mich selber zu sein, durch- und auszuhalten, darin war ich geprägt. Erst mit Freiraumfrau lernte ich auch auf meine Balance zu schauen. In der Lebensmitte krempelte ich mein Leben nochmal um.
Mein Haus am See hat Räder!
Meine Entscheidung ein rollendes Haus am See, ein Wohnmobil, meinen Freiraumbus zu kaufen, brachte die Seelenruhe und Zufriedenheit, die ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Erst mit großer Selbstehrlichkeit konnte ich für eine Lösung finden, die mich stärkt und trotzdem alles unter einen (Familien-)Hut bringt.
Mittlerweile sind unsere Kinder aus dem Haus. Dafür brauchen meine alten Eltern mehr Unterstützung. Und nun Corona und die Erkenntnis, dass es immer Engstellen geben wird, die zu bewältigen sind. (Über die Balance zwischen Licht und Schatten hatte ich hier schon mal gebloggt.)
Weshalb ich dir das alles so ausführlich erzähle?
Ich finde, du solltest wissen, wer dich beim Freiraum kreieren begleitet. Du siehst, ich kenne mich mit vielen Facetten von Engstellen aus und spüre dem Freiraum auf allen Ebenen nach. Heute weiß ich, es geht darum den Freiraum im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu leben. Und zwar im hier und jetzt. Keiner weiß, wie morgen sein wird.
Dazu musste ich viel über mich lernen. Seit ich weiß, wie ich ticke, kann ich meinen Freiraum artgerecht* (danke, liebe *Sylvia Löhken für diese Formulierung, die ich deinem Buch “Leise Menschen, starke Wirkung” entliehen habe) leben.
Gerade feiere ich mein 10-jähriges Markenjubiläum. 10 Jahre habe ich gebraucht, um meinen Freiraumweg Schritt für Schritt zu finden. Jetzt habe ich den Punkt erreicht, an dem ich mein langjährig erarbeitetes Wissen weitergeben kann.
Lass uns zusammen Freiraum kreieren!
Deine Freiraumfrau
Nachtrag am 31.03.2023:
Heute erlebte ich 2 Synchronizitäten. Erst spülte mir Facebook diesen Blogartikel als Erinnerung in meinen Feed. Dann hörte ich die Podcastfolge 67 von Christine Kempkes von Liebevoll trauern. Darin geht es um die aberkannte Trauer. Da fiel ein weiteres Puzzlestück an seinen Platz. Seit der Erkrankung meines Mannes lebe ich mit aberkannter Trauer.
- Ich lebe damit, dass nach der einschneidenden Diagnose so vieles so anders war.
- Ich lebe damit, dass ich mich von dem Partner verabschieden musste, in den ich mich verliebt hatte.
- Ich lebe mit dem Verlust von Träumen und Möglichkeiten.
Beim Hören des Podcast fühlte ich mich seit langem (und wir reden hier von 24 Jahren) gesehen. Das wabernde Gefühl bekam endlich einen Namen: Aberkannte Trauer. Es war für mich all die Jahre so schwierig mein Gefühl benennen zu können.
Aberkannte Trauer: So fühlt(e) es sich an
Es fühlt sich so seltsam an, wenn ich in mir etwas spüre und die Außenwelt mir meine Wahrnehmung abspricht. Jetzt bin ich beruhigt. Das Kind hat einen Namen. Noch eine Erkenntnis gesellte sich dazu: Ich weiß jetzt, was ich vermisst habe. Eine liebevolle Anerkennung meines Gefühls in so vielen unterschiedlichen Situationen.
Mein heilender Raum
Ohne das wirklich in Worte fassen zu können, habe ich mir intuitiv einen heilenden Raum geschaffen. Dieser Raum ist mein Freiraumfrau-Club, der am ersten April 2023 sein einjähriges Jubiläum feiert.
Dort halte ich den Raum für die anderen. Wenn ich ihn nötig habe, dann stehe ich mitten im Kreise Gleichgesinnter und werde gehalten. Das ist mein WARUM für den Club. Welch eine Erkenntnis am Ende dieses herausfordernden Monats.
(Hier liest du meinen Jubiläums-Blogbeitrag).
Liebe Angelika, ich bin froh, dass du über aberkannte Trauer schreibst! Auch ich war unglaublich erleichtert und fühlte mich sehr gesehen als ich vor einigen Jahren die Arbeiten des Belgiers Manu Keirse entdeckte. (Seine unglaublich berührenden, menschlichen Vorträge sind leider nur in flämischem Niederländisch vorhanden)
Er war nicht nur der erste, den ich hörte, der Trauer nicht nur mit Tod in Zusammenhang brachte oder gar von Phasen sprach. Er spricht von aberkannter Trauer zum Beispiel im Fall langjähriger Geliebter. Und von “Levend Verlies” (Living Loss): Einer Trauer, die immer da ist, weil das, um das es geht immer da ist.
Chronische Krankheit zum Beispiel oder das Leben mit einem schwerst behinderten Kind. Er sieht dabei auch das gesamte System: Angehörige und Betroffene. Er gibt allen einen Platz und einen Raum. Mit allen sogenannten “Sekundärverlusten”, die doch so gar nicht zweitrangig sind: Verlorene Lebenspläne, Zukunftsträume, Interessen, Menschen.
Auch ich habe da zum ersten Mal begriffen, dass einige der phyischen Symptome, die ich verspürte, nicht gesehene Trauer anzeigten.
Auch sehr heilsam zu verstehen für mich: Es gibt bei etwas, das immer schon da war oder immer bleibt, nicht unbedingt das tiefe Tal, wie so oft in Lektüre zum Thema Trauer beschrieben. Aus diesem Grund wird dieser “Living Loss”, diese Trauer auch oft nicht gesehen. Und dadurch auch nicht gefühlt. Dann sitze ich nicht unfähig zum Leben auf dem Sofa, sondern lebe wie immer “ganz normal”. Vielleicht gedämpfter, vielleicht mit einer gewissen Grundtraurigkeit. Das “wabernde Gefühl”, das du beschreibst. Danke für die Erinnerung, dass ich diese Erkenntnis noch mehr in die Welt bringen will. Noch viel mehr Menschen sollen sich gesehen fühlen.
Danke. Anne (aka SEHHELDIN)
Liebe Anne,
ich bin ja auch erst vor wenigen Wochen dank des Podcast von Christine Kempkes auf das Thema aberkannte Trauer aufmerksam geworden. Und dann fügte sich so vieles. Und auch diese verlorenen Lebenspläne, die du beschrieben hast, werden auf einmal sichtbar.
Gefühle wollen gefühlt werden und nun ist es an der Zeit der aberkannten Trauer ihren Raum zu schenken.
Ich finde, so wie du, das dieses Thema mehr Sichtbarkeit braucht.
Jetzt suche ich mir erstmal den Weg zum Verarbeiten und Nachspüren.
Und ja, noch mehr Menschen sollen sich gesehen fühlen.
Herzensgrüße,
Angelika